Spirituelle Ritterschaft

Noor un-Nisa Inayat Khan (1914–1944), die als Widerstandskämpferin gegen das Naziregime im KZ Dachau ermordet wurde, gilt als Schirmherrin der Spirituellen Ritterschaft. Nekbakht Foundation

In unserer modernen, von hohem Tempo, Hochtechnologie und Zweckrationalismus geprägten Zeit mag man sich fragen, ob und in welcher Weise „althergebrachte ritterliche“ Werte angemessen und hilfreich sein können. Davon abgesehen wird jeder Mensch ganz individuelle Vorstellungen von „Ritterlichkeit“ haben. Vorweg ist daher zu sagen: Die Spirituelle Ritterschaft steht für eine ethische Ausrichtung, die in allen Situationen des Alltags sowohl Orientierung ermöglicht als auch konstruktive Entscheidungs- und Handlungsoptionen aufzeigt. Im Gegensatz zu einer strengen, manchmal hartherzigen und oft unreflektiert übernommenen Moral ist das Fundament der Spirituellen Ritterschaft eine zutiefst menschliche Ethik, die uns ein wirklich erfüllendes, befriedigendes und damit glückliches Leben in der menschlichen Gemeinschaft ermöglichen kann.

Im Rahmen des Sufi-Sommercamps 2011 in den Schweizer Alpen hatte Pir Zia Inayat-Khan eines Nachmittags über die Spirituelle Ritterschaft gesprochen. Während der Monate davor war mir in meinem stressigen und manchmal auch hektischen Alltag immer bewusster geworden, dass sich die in der täglichen Meditation gemachten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse in meinem Alltagsleben nicht so ohne weiteres verankern lassen. Wie aus heiterem Himmel war nun jedoch diese vielversprechende und stimmige Perspektive in Form der Spirituellen Ritterschaft mit ihren hilfreichen Übungen da.

In der Philosophie des Sufismus ist das Sich-Rückverbinden mit unser aller Quelle mithilfe der Meditation nicht das alleinige Ziel. Von herausragender Bedeutung ist es, all die dabei gemachten erhebenden, lichtvollen und erfüllenden Erfahrungen nachher auch mit in den Alltag zu nehmen und das täglichen Leben mehr und mehr in dieser Richtung zu gestalten. Gerade das hat mich am Weg des Sufismus besonders berührt und angezogen, allerdings erwies sich eben jene Arbeit am Hervorbringen eines erfüllenden Lebens im alltäglichen Getriebe als sehr große Herausforderung. Aus demselben Grund hatten bereits sehr lange zurück in der Vergangenheit die Menschen am spirituellen Weg nach einer Art „Gebrauchsanweisung“ dafür gefragt – woraufhin schließlich die Spirituelle Ritterschaft entstanden ist.

Die Essenz einer „ritterlichen“ Lebensführung ist es, sich zunächst darüber klar zu werden, welche Ideale und ethische Ausrichtung man im Leben eigentlich hat – also eine Standortbestimmung vorzunehmen. Die Spirituelle Ritterschaft schlägt ein solches hohes Ideal einer menschlichen Ethik zusammen mit einer Fülle ganz konkreter und alltagstauglicher Werthaltungen vor, und sie beleuchtet und begründet dieses Ideal sowohl aus alltäglicher als auch aus spiritueller Sicht. Daher kann man im nächsten Schritt die eigene ethische Einstellung mit diesem Ideal und den vorgeschlagenen Werthaltungen vergleichen, sie reflektieren und gegebenenfalls Anpassungen vornehmen. Damit gewinnt man über die Sinnhaftigkeit der persönlichen Werthaltung völlige Sicherheit und kann sich in jeder Alltagssituation auf sie als optimale Entscheidungs- und Handlungsgrundlage verlassen.

Der Weg der Spirituellen Ritterschaft ist praxisorientiert und besteht darin, im Alltag die Aufmerksamkeit jeweils für einen bestimmten Zeitraum auf die einzelnen empfohlenen Werthaltungen zu richten. Selbstdisziplin, Ausdauer und Geduld sind dabei erforderlich, deshalb ist es günstig, sich ausschließlich auf jeden einzelnen Schritt zu konzentrieren. Immerhin umfasst das Übungsprogramm der in dieser Form von Hazrat Inayat Khan begründeten Spirituellen Ritterschaft der Inayati mehrere Jahre. Die Übungen selbst sind so konzipiert, dass sie im alltäglichen Leben „mitlaufen“. Sie bedürfen allerdings unserer konstanten Aufmerksamkeit, Selbstreflexion und Bereitschaft, an uns selbst konsequent zu arbeiten. Das alltägliche, ernsthafte und bewusste Reflektieren unserer Werthaltungen mittels der Praxis der Spirituellen Ritterschaft erweitert und schärft unser Unterscheidungsvermögen im Lauf der Zeit, sodass wir allzu eigennützige Impulse klarer erkennen und besser zu kontrollieren vermögen.

Anders als bei überzogen strengen und manchmal hartherzigen Moralvorstellungen geht es bei der Spirituellen Ritterschaft um keinerlei Bestrafung und man hat völlige Entscheidungsfreiheit. Die einzige Autorität ist das eigene Gewissen, man hat sich keiner äußeren Autorität gegenüber zu rechtfertigen. Wir alle sind fehleranfällig. Wenn wir damit beginnen, bei unseren eigenen Fehlern klar und gleichzeitig verständnisvoll hinzuschauen und uns mit all unserer Fehleranfälligkeit wertschätzend anzunehmen, haben wir die Voraussetzungen für unsere persönliche Weiterentwicklung geschaffen. Bei gewissen Fehlern, die uns unterlaufen, haben wir allerdings auch eine geeignete Form der Wiedergutmachung zu finden. Anstatt sich also über die Unzulänglichkeiten unserer Mitmenschen zu beklagen, fokussieren und arbeiten wir an unserer eigenen Vervollkommnung. Wir können aus jedem persönlichen Fehler und auch aus jenen unserer Mitmenschen lernen, Änderungen in unserem eigenen Verhalten vornehmen und unseren Weg im Alltag gestärkt weitergehen. Die Spirituellen Ritterschaft ist eine unschätzbare Hilfe dabei. Weil eine solche Grundhaltung uns Menschen über alle Unterschiede hinweg – sei es unsere Hautfarbe oder kulturelle Zugehörigkeit, politische oder religiöse Weltanschauung – zu verbinden vermag, schafft sie die Grundlage für die Bewältigung aller aktuellen Herausforderungen, für eine echte Globalisierung und somit für den Weltfrieden.

von Manfred Ganekind

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Manfred Ganekind

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