Essenz des Sufismus

Khizr wird auch „der grüne Mann” genannt und oft mit dem spirituellen Symbol eines Fisches dargestellt. Er gilt im Sufismus und auch in anderen Traditionen als geheimnisvoller Guide, der den von ihm Auserwählten erscheint und sie geheimes Wissen lehrt. Von Moses ist im Koran überliefert, dass er Khizr dort traf, wo die „zwei Meere” zusammentreffen. Einer anderen Erzählung zufolge soll Khizr der Koch von Alexander dem Großen gewesen sein. Die beiden begaben sich auf die Suche nach dem Wasser des Lebens. Alexander verirrte sich in der Dunkelheit, doch Khizr fand es, trank davon und ist seither unsterblich.

Der Prophet Khizr, ca. 1760 Bibliothèque nationale de France, Paris, Public Domain

Aus einem Vortrag von
Pir Zia Inayat Khan

 

Aus einem Vortrag, der auf der Konferenz „The Power of Love“ am Omega Institute am 14. Oktober 2005 gehalten wurde. Pir Zia Khan ist der Enkel von Hazrat Inayat Khan und Präsident des Sufiordens der Inayatiyya. Pir Zia hat den Buddhismus unter dem Patronat Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und den Sufismus in der klassischen indischen Tradition der Chishtiyya studiert.

 

Wir alle kommen aus unterschiedlichen Lebensumständen. Vielleicht folgen manche von Ihnen einem Sufi-Weg in ihrem eigenen Leben, und vielleicht fühlen sich andere von dem Namen angezogen und fragen sich, was dieser Weg des Sufismus sein könnte. Wenn Sie zur letzteren Kategorie gehören, dachte ich, könnte es hilfreich sein, zunächst etwas über die Bedeutung des Begriffs Sufismus zu sagen. Auch wenn Sie der ersten Kategorie angehören, könnte es hilfreich sein. Denn Sufismus, daran sollte man sich zuallererst erinnern, ist ein Neologismus – ein neu geprägtes Wort. Und ich muss sagen, es ist nicht nur ein Neologismus, sondern auch eine irreführende Bezeichnung, eine verfehlte Wortschöpfung, und das liegt daran, dass es einen „-ismus“ enthält und der „-ismus“ die wesentliche Bedeutung des Wortes untergräbt, weil ein „-ismus“ immer eine geschlossene Gemeinschaft suggeriert, eine Ideologie, eine Doktrin – und Sufismus ist in seiner Essenz nichts davon. Wenn wir also wirklich wissen wollen, was Sufismus ist, wäre es hilfreich, auf die ursprüngliche Bezeichnung im Arabischen zurückzugehen, und das ist tasawwuf. Es ist nicht genauso einfach auszusprechen, aber es ist eine exaktere Bezeichnung, weil es ein Verbalsubstantiv ist und sich somit auf einen Prozess des Werdens bezieht. Es ist nicht statisch, sondern dynamisch. Tasawwuf bezeichnet wörtlich den Prozess, ein:e Sufi zu werden. Man versteht also von Anfang an, dass es kein Club ist, dem man angehört oder nicht angehört, es ist eine transformative Erfahrung.

Aber dann bleibt die Frage: Was ist ein:e Sufi? Was ist das Endergebnis dieses Prozesses? Seit den frühesten Tagen, als diese Worte in Umlauf kamen – tasawwuf und Sufi – haben die Sufis ihre Antworten auf die Frage gegeben, was ist ein:e Sufi? Jede dieser Antworten ist anders. Jede dieser Antworten ist eine Facette jener einen Realität, die das Sufi-Sein ausmacht. Heute Abend möchte ich einige dieser Definitionen mit Ihnen teilen, die wie arabische Koans dazu beitragen, uns in einem Prozess zu orientieren, dessen Ziel wir nur entfernt erkennen können. Ich habe einige der Definitionen mitgebracht und werde sie auf Arabisch und auch in Übersetzung lesen.

Die erste stammt von einem Sufi namens Abu’l-Hasan Bushanji:

Sufismus ist heute ein Name ohne Realität, die einst eine Realität ohne Namen war.

Das wurde im achten oder neunten Jahrhundert gesagt.

Und Ibn al-Jalla sagt:

Sufismus ist eine Essenz, eine Wahrheit. Er enthält keine Form, kein Ritual, keinen Brauch. Er ist pure Essenz.

Diese beiden Aussagen entsprechen einander. Sufismus war eine Realität, die jetzt eine Form geworden ist, die jetzt ein Name geworden ist, der keine Realität mehr ist. Wahrer Sufismus ist immer eine Realität, die sich der Form entzieht. Er kann niemals vollständig durch eine Form ausgedrückt werden und nimmt für seinen Ausdruck und seine Manifestation alle Arten von Formen an, unzählige Formen. Und doch bleibt sein gesamtes Wesen geheim, verborgen, jenseits der Form. Die Sufis haben immer den Prozess verstanden, durch den ein verborgenes Geheimnis institutionalisiert, vermarktet und der Welt als Form bekannt gemacht wird, während die Sufis selbst im Geheimen seine Essenz verbargen und weiterführten. Dies ist über die Generationen geschehen. Immer wieder wurde eine Übertragung von Mensch zu Mensch weitergegeben, von Herz zu Herz, ohne Vermittler, immer von Herz zu Herz.

Wenn Sie an Ihre Familiengeschichte denken, können Sie vielleicht einige mündliche Überlieferungen in Ihrer Familie identifizieren, Familienbräuche und -erinnerungen. Wie weit lassen sich diese zurückverfolgen? Zwei oder drei oder vier Generationen? Können Sie sich eine Tradition vorstellen, die über Jahrtausende ohne Form, aber kontinuierlich und ohne Unterbrechung als grundlegendes Gebot des Lebens jedes ihrer Träger weitergegeben wurde? Das ist die formlose Tradition, auf die sich diese Aussagen beziehen.

Das soll natürlich nicht heißen, dass Sufis keine Bücher geschrieben haben. Dieselben Sufis, die sagten, dass dies niemals in Worte gefasst werden könne, schrieben später mehrbändige Enzyklopädien. Aber letzten Endes wussten sie, dass Worte versagen.

Ich bin sicher, dass Sie alle mit der Eloquenz von Mawlana Jalal al-Din Rumi, dem großen Dichter, vertraut sind. Er war Professor in Konya und unterrichtete seine Schüler mit großen Bücherstapeln, die vor ihm aufgetürmt waren. Eines Tages kam ein scheinbar Verrückter aus der Wüste hereingeweht und unterbrach den Unterricht ziemlich unsanft. Er kam nach vorne, zeigte auf die Bücher und sagte: „Was soll das alles?“

Rumi ließ sich von einer solch albernen Frage nicht irritieren und sagte: „Du weißt es nicht.“ Er bedeutete ihm, sich nach hinten zu setzen, und dort setzte sich Shams, der Derwisch. Plötzlich begannen die Seiten der Bücher zu brennen. Große Flammen schlugen aus dem Schreibtisch. Rumi sprang auf und sagte, als er Shams ansah: „Was ist das!“

Shams antwortete: „Du weißt es nicht.“

Letztlich kann transzendentes Wissen niemals in Worte gefasst werden und wird immer von Herz zu Herz weitergegeben.

Hier ist die nächste Definition von Abu’l-Hasan al-Nuri, einem der großen frühen Sufis:

Sufismus ist nicht Ritual und nicht Form, kein Wissen, keine Doktrin, Idee oder Theorie.  Aber er bedeutet tadelloses Benehmen, das Benehmen des/der Liebenden in Gegenwart des/der Geliebten.

Das ist der Kern der religiösen Gebote. Die Gebote existieren, um uns im Zaum zu halten, wenn wir uns der Anwesenheit des/der Geliebten nicht bewusst sind. Wenn wir uns in der überwältigenden Intimität des/der Geliebten befinden, erhebt sich unser Verhalten zu einem Grad an Perfektion, der sonst unerreichbar ist. Wahrscheinlich haben Sie alle in Ihrem eigenen Leben bemerkt, dass Sie sich nach unterschiedlichen Maßstäben verhalten, je nachdem mit wem Sie zusammen sind. Und in der Gegenwart jener, die Sie am meisten idealisieren, die Sie am meisten lieben, zeigen Sie sich von Ihrer besten Seite. Sufismus bedeutet also, das Leben in dieser ständigen Präsenz zu leben.

Es gab einmal einen Sufi-Murshid (Lehrer) in Indien, der zu seinen Schülern sagte: „Leider ist die Zeit gekommen, dass wir unsere Taktik ändern müssen. Bisher haben wir nur Almosen von denen bekommen, die spontan geben. Aber die Lage ist sehr schwierig geworden. Und jetzt muss ich euch bitten, etwas heimlich zu nehmen. Geht hinaus und stehlt etwas. Die einzige Bedingung ist, dass ihr es nicht tun könnt, wenn jemand zuschaut.“

Die Leute kamen mit allen möglichen Dingen zurück: Einer hatte ein Huhn und ein anderer brachte eine Geldbörse, und nur einer der Schüler kam mit leeren Händen zurück. Und der Murshid sagte: „Ich habe euch ganz klare Befehle gegeben, etwas zu stehlen, und du hast nichts zurückgebracht!“

Der Student sagte: „Ich musste deiner Bedingung gehorchen, es nicht zu tun, wenn jemand hinsah, und Gott sah überall hin.“

Das bezieht sich auf die nächste Definition, die ebenfalls von diesem sehr großen frühen Sufi, Abu’l-Hasan al-Nuri, stammt:

Sufis sind solche, die nichts besitzen und von nichts besessen sind.

Im Osten findet man Fakire, die das sehr wörtlich interpretieren. Sie besitzen nichts. Sie sind wandernde Bettler, die nichts besitzen. Und es gibt andere, die in Palästen in großem Wohlstand leben, aber völlig losgelöst von dem Reichtum sind, bereit, ihn jeden Moment loszulassen. Sie spielen eine Rolle in der Welt. Das ist die Essenz dieser Aussage, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu sein. Besitzen heißt ergreifen, süchtig sein, sich nicht von etwas trennen können. Die Sufis sind süchtig, unfähig, sich von einer einzigen Sache zu trennen, und das ist das Eine Wesen, das allgegenwärtig ist und niemals verloren gehen oder gestohlen werden kann. So stellt man fest, dass man umso weniger besessen ist, je weniger man besitzt, psychisch besitzt. Denn all die Dinge des Lebens, die man ansammelt, belasten einen nur. Natürlich kommt eine Zeit, in diesem Leben oder im nächsten, wo wir alles Stück für Stück loslassen müssen. Das kann freiwillig oder unfreiwillig sein.

Diese Lektion hatte ein sehr großer früher Sufi gelernt, dessen Name Ibrahim Adham Balkhi war. Er war der König von Balkh, einem Königreich in Afghanistan. Zu dieser Zeit gab es in Afghanistan eine reiche, vielfältige Kultur, die ein starkes buddhistisches Element enthielt. Ich bin sicher, Sie kennen diese unglaublichen Buddha-Denkmäler, die vom Taliban-Regime zerstört wurden und das Erbe dieser Zeit waren. Und Ibrahim Adham selbst war ein Heiliger in den Fußstapfen des Buddha. Wenn Sie die Sufi-Tradition studieren, werden Sie die Spur des Buddhismus finden. Die Sufis sprechen in ihrer persischen Poesie von but¹, dem Idol, als einer Manifestation des/der göttlichen Geliebten. Und dieses Wort kommt von Buddha.

Wie Buddha war auch Ibrahim Adham ein großer König, der im Überfluss lebte. Natürlich leben wir alle in dieser heutigen Zeit im Vergleich zu den Menschen früherer Epochen wie König:innen. In gewisser Weise war Ibrahim Adham also eine Person wie jede:r von uns. Aber er war König am Hof eines mächtigen Königreichs. Und dieser König wurde von einem anderen seltsamen Mystiker aus der Wüste besucht. Das war Khizr, der grüne Mann der Wüste. Er wehte herein, wich den Wachen aus und gelangte in den inneren Hof. Anstatt sich ehrerbietig zu verneigen, wie es das Protokoll war, stieg er dreist zum Thron hinauf. Der König war zutiefst gekränkt und sagte: „Was führt dich an den Hof des großen Königs?“

Und Khizr antwortete: „Oh, ich bewege mich nur durch diese Karawanserei“, was Motel bedeutet. Sie können sich vorstellen, wie wütend der König war, als er hörte, dass sein Palast ein Motel genannt wurde.

Er sagte: „Wie kannst du es wagen, das zu sagen!“

Und Khizr sagte: „Nun, wer saß vor dir auf diesem Thron?“

Der König antwortete: „Mein Vater.“

Khizr sagte: „Und vor ihm?“

„Sein Vater“, sagte der König.

„Und vor ihm?“

„Sein Vater.“

Und Khizr antwortete: „Und du willst mir sagen, dass dies kein Motel ist, in dem die ganze Zeit Leute kommen und gehen?“

Plötzlich kam dem König eine Offenbarung. Er erkannte, dass alles, für das er sich eingesetzt hatte, seine persona auf Basis von Größe, Reichtum und Macht, vergänglich war; es war unbedeutend in der großen Gesamtschau der Dinge. Er bewegte sich nur durch ein Motel. Die Worte von Khizr trafen direkt in sein Herz, wie ein Stachel. Er sah sich gezwungen, seine Krone und seinen Thron zu verlassen und als wandernder Derwisch zu leben. Viele Jahre wanderte er. Einmal begegnete er einem Derwisch, der sich über seine Armut beschwerte, und der Ex-König sagte: „Du musst deine Armut sehr billig erkauft haben.“

Der Derwisch sagte: „Kauft man Armut?“

Ibrahim Adham sagte: „Ich habe allen Reichtum der Welt bezahlt und habe trotzdem das Gefühl, dass ich ein sehr gutes Geschäft gemacht habe.“

Dann wurde er ein Schüler von Fuzail bin Ayaz, einem früheren Straßenräuber, der zum Sufi konvertiert war. Dort in der Khanqah² musste er seinen falschen Stolz aufgeben. Sein Murshid, sein Lehrer, war sehr streng mit ihm und ließ ihn den Müll hinaustragen. Das war hart für einen Mann, der sein ganzes Leben lang verwöhnt worden war. Aber Ibrahim Adham nahm es locker und trug den Müll hinaus. Die anderen Schüler konnten es nicht ertragen zu sehen, wie dieses große, noble Wesen so gedemütigt wurde, und sie sagten: „Geh doch bitte sanfter mit ihm um.“

Der Murshid sagte: „Nun gut, wir werden einen Test machen.“

Er schickte jemanden, der den Müll umkippte, während Ibrahim Adham ihn hinaustrug. Der frühere König sah ihn sehr unfreundlich an und sagte: „Als ich König war, hätte ich mir das nie gefallen lassen.“

Das wurde dem Murshid erzählt, und er sagte: „Er ist noch nicht bereit.“

Einige Monate später taten sie es erneut. Dieses Mal sah Ibrahim Adham denjenigen, der den Müll umgekippt hatte, nur an. Als der Murshid diesen Bericht hörte, sagte er: „Er ist noch immer nicht bereit.“

Dann schließlich, Monate später, als sie wieder den Müll umkippten, schaute Ibrahim Adham nicht einmal hin, um zu sehen, wer es getan hatte. Er sammelte einfach den Müll auf und fuhr mit seiner Hausarbeit fort. Sein Murshid ging auf ihn zu, umarmte ihn und gab ihm eine sehr hohe Einweihung. Er wurde sein Nachfolger in diesem Orden. In der Tat ist dies der Orden, den wir in dieser Übertragungslinie weiterführen. So trat er in die Fußstapfen des Buddha, der auch ein großer König war, der seine weltliche Position aufgab, um eine ewige Realität zu entdecken.

Hier ist eine andere Definition von Sufismus:

Sufis sind die Besitzer:innen des Atems.

Die vorherige Definition besagte, dass die Sufis nichts besitzen. Dies ist eine Ausnahme von der Regel. „Sufis sind die Besitzer:innen des Atems.“ „Diejenigen, die gut atmen“ ist eine andere Übersetzung, oder „Diejenigen, deren Atem erwacht ist“. Es gibt im Osten die Vorstellung, dass jeder Mensch mit einer bestimmten begrenzten Anzahl von Atemzügen auf der Erde geboren wird. Einige Yogis versuchen, ihren Atem auszudehnen, den Atem zu verlangsamen, damit sie viel länger leben. Nun, das gleiche Prinzip gilt hier, aber es verlängert den Atem nicht in der Zeit, sondern verlängert den Atem über die Zeit hinaus, indem jeder Augenblick im erwachten Atem ewig wird. Durch den Atem erreichen wir Präsenz, und durch die Vernachlässigung des Atems sind wir abwesend. Meinem Großvater wurde von seinem Murshid gesagt, dass es auf diesem Weg des Sufismus nur eine Sünde und eine Tugend gibt. Die Sünde ist der Atem, der im Vergessen entweicht, und die Tugend ist der Atem, der im Bewusstsein der Einheit des Seins geatmet wird. So einfach ist das. Es gibt nur eine Lehre im Sufismus: nämlich jeden Atemzug in Erinnerung an das Eine Wesen zu atmen. Es ist etwas sehr Einfaches, aber es ist ein lebenslanges Studium.

Und jetzt noch eine Definition von Abu Muhammad Murta’ish:

Die Sufis sind diejenigen, deren Denken mit ihrem Schritt im Einklang ist. Diejenigen, die da sind, wo sie stehen. Diejenigen, die hier präsent sind mit fest auf der Erde stehenden Füßen. Diejenigen, in denen Körper und Seele in Präsenz, in Bewusstsein vereint sind.

Um das zu veranschaulichen, werde ich eine Geschichte erzählen – diesmal aus meinem eigenen Leben. Als Kind lebte ich in Indien und studierte Atem und Bewegung, die Gegenstand der obigen Definitionen sind. Ich lernte bei einem Tai-Chi-Lehrer aus Japan. Er lehrte mich die Bewegungen einer bestimmten Form, und wir arbeiteten jeden Tag zusammen. Nach einigen Monaten in dieser Art und Weise sagte er zu mir: „Du hast eine gewisse Fertigkeit in dieser Form erreicht und es ist jetzt an der Zeit, dass wir unsere Freunde einladen und diese Form vorführen.“

Wir taten dies auf dem Dach der tibetischen Nationalbibliothek in Dharamsala, einem sehr vielversprechenden Ort, um Tai Chi zu praktizieren, und versammelten einige gute Freunde. Er machte die Bewegungen, und ich machte die Bewegungen. Dabei spürte ich plötzlich ein leichtes Jucken am Hals direkt an der Halsschlagader. Ich wich sehr sanft von den Bewegungen ab und brachte die Finger über meinen Hals und dann nach vorne. Und dann konnte ich sehen, dass da ein schwarzer Skorpion war, dessen Stachel zum Schlag bereit war. In diesem Moment waren das Bewusstsein des Atems, das Bewusstsein der Bewegung verloren. Ich ließ den Skorpion fallen. Aber ich fragte mich, wie der Skorpion vom Boden zu meinem Hals gekommen war. Er musste den ganzen Weg nach oben gekrochen sein.

Ich danke einfach der Meditation, dass sie mein Leben gerettet hat. Aus dieser Erfahrung kann ich wirklich sagen, dass Meditation mein Leben gerettet hat, dass das Bewusstsein des Atems, das Bewusstsein der Seele im Körper, etwas, das dem Tai Chi eingeprägt ist, es mir ermöglicht hat, in einem Zustand zu sein, in dem der Skorpion keine Feindseligkeit empfand. Das war eine tiefgreifende Lektion, die mich seither begleitet. Und ich denke, sie trifft auf viele Situationen zu, nicht nur auf tödliche Insekten, sondern auf alle Arten von Widrigkeiten in der Welt. Der größtmögliche Schutz ist die Gelassenheit des erwachten Atems.

Hier ist eine andere Definition – ein sehr wunderbares und provokatives Sprichwort:

Diejenigen sind Sufis, deren Religion Gott ist.

Nicht Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus oder ein anderer -ismus. Religion selbst ist nur Gott. Gott ist Religion. Eine Religion ist eine Einrichtung, in der man sich immer mehr an der göttlichen Gegenwart orientieren kann, die am Horizont und in einem selbst immer mehr durchdringt. Das Erreichen eines Zustands mystischer Verwirklichung ist ein Zustand, in dem sich die religiöse Verpflichtung auf diese Realität richtet. Man folgt also einer Religion, deren Formen jede Form sind. Jede offenbarte Tradition ist ein Element dieser universellen Religion, die die göttliche Religion ist, die alle menschlichen Traditionen umfasst, die ihr einziges Licht widerspiegeln.

Das ist die Universalität des Sufismus und die Universalität jeder mystischen Tradition in ihrer Essenz. Eine Realität, kein Ritual, keine Form. Die Essenz ist immer die Wirklichkeit hinter der Form. Es ist immer erleuchtend, sich an die Worte von Shaykh al-Akbar Ibn al-‘Arabi zu erinnern, der sagt:

Hüte dich davor, dich auf eine bestimmte Vorstellung zu beschränken und alles andere zu leugnen, denn viel Gutes würde dir dadurch entgehen. In der Tat würde dir die Erkenntnis der Realität entgehen. Sei in dir selbst eine Substanz für alle Formen, denn Gott ist zu groß und gewaltig, um auf eine Glaubensform zu Ungunsten einer anderen beschränkt zu werden.

Das ist ein direktes Zitat von Shaykh al-Akbar Ibn al-‘Arabi aus seinem Fusus al-Hikam und eines, das auf sehr relevante und zeitgemäße Weise in unserer Zeit spricht, in der die Menschheit darum ringt, eine gemeinsame spirituelle Sprache zu finden, die über die Grenzen der Unterschiede hinausgeht. Nicht nur ein globalisierter Markt, sondern ein globalisierter Geist.

Hier ist eine andere Definition. Al-Shibli war ein großer verrückter Freund von al-Hallaj. Als al-Hallaj zum Tode verurteilt wurde und die Leute ihn mit Steinen bewarfen, warf al-Shibli eine Rose. Er pflegte die Asyle seiner Zeit zu besuchen. Die Leute waren sich nicht sicher, ob er total verrückt oder total gesund war. Er sagte:

Sufis sehen in den zwei Welten, in dieser Welt und im Jenseits, nichts mit Gott außer Gott. Nichts anderes als Gott.

In jeder Situation, an jedem Ort, zu jeder Zeit, in jeder Beziehung kommen die Sufis immer wieder zu dem Einen zurück und sehen die unzähligen Masken als Schleier vor dem Gesicht einer einzigen unendlichen Persönlichkeit, eines göttlichen Wesens. Nicht einen einzigen Moment lang stellen sich die Sufis vor, dass irgendetwas zusätzlich sein könnte, und sie erkennen sofort und intuitiv, dass alles in seiner Essenz im Grunde eins ist. Die Sufis erkennen an, dass diese ganze Manifestation eine Phantasmagorie ist, die die Brechung und Reflexion eines einzigen Lichts ist.

Ein Sufi-Lehrer sprach einmal auf diese Weise vor einer Gruppe wie dieser. Danach ging er nach Hause und jemand aus dem Publikum folgte ihm, nahm einen Stock und schlug ihm auf den Rücken. Er blickte zurück. Die Person, die ihn geschlagen hatte, sagte: „Erwischt! Du hast gesagt, es ist alles eins, aber als ich dich geschlagen habe, hast du dich umgedreht, um zu sehen, wer es war. Der Scheich lächelte nur: „Ja. Ich wusste, es war alles Gott. Ich wollte nur sehen, was für einen Ignoranten Gott wählen würde, um diese Tat auszuführen.“ Es mildert all unsere Reaktionen, wenn wir wissen, dass Gott hinter allem steckt. Ab einem gewissen Punkt kann man niemandem persönlich wirklich etwas vorwerfen.

Und nun zuletzt diese Worte von Shaykh Abu Yazid Bistami:

Die Sufis sind wie Säuglinge im Schoß Gottes.

Ein:e Sufi zu sein bedeutet, sich in diesem Zustand des Vertrauens, der Gewissheit, der liebevollen Resonanz, des nicht-individuierten Bewusstseins zu befinden, sich in einer liebevollen Umarmung eingeschlossen zu fühlen, die ewig und unendlich und unwiderruflich ist, und zu wissen, dass die Essenz der Realität nicht ambivalent, sondern in Wahrheit tatsächlich mitfühlend, akzeptierend, vergebend, nährend ist. Unendliche Barmherzigkeit. Ewiges Mitgefühl. Das ist nicht länger Theorie oder Wunschdenken, sondern die eigene wesentliche Erfahrung, die unbestreitbar wahr ist, weil man in der Umarmung der Göttlichen Liebe wohnt. Und das ist die wahre Bedeutung des Titels der Konferenz an diesem Wochenende: „The Power of Love“.

Gott segne Sie.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Ingrid Dengg

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¹ Farsi but: Idol, Bild, Statue; ein geliebtes Objekt.

² Eine Khanqah ist ein Ort der Zusammenkunft für die Sufigemeinschaft, an dem auch Reisende stets willkommen waren.