Gebet

Auf dem spirituellen Weg geht es darum, mit unserem wahren Selbst in Kontakt zu kommen, mit dem Göttlichen in uns. Und das wohl stärkste Instrument dafür ist das Gebet. Im Gebet bringen wir die beiden Pole unseres Wesens zusammen. Es ist wie eine Linie, an deren einem Ende das Alltags-Ich ist, das sich mit den Grenzen der physischen Welt herumschlägt. Es ist begrenzt, befindet sich aber dennoch in einem Zustand der Aktualisierung, der Manifestation. Und am anderen Ende liegt der göttliche Pol, dort wo alles grenzenlos ist, grenzenloses Potenzial, jedoch in einem nicht aktualisierten Zustand.

In seinem Beitrag Die fünf Aspekte des Gebets und die fünf Elemente > sagt Pir Zia Inayat Khan:

Es ist das Gebet, in dem diese zwei Pole zusammenkommen, denn indem du dein Bedürfnis artikulierst, verleihst du deinem Begehren eine konkrete Realität, durch deine Gedanken und Gefühle. Es beginnt als universeller Impuls von ‘ishq, Sehnsucht, die aber noch sehr vage und ungeformt ist.

Wenn sie dann klarer wird, wird sie zum Begehren. Und wenn das Begehren klarer wird, wird es zum Wunsch. Und wenn der Wunsch klarer wird, wird er zum Willen, und es ist der Wille, durch den alles in dieser Welt vollbracht wird. Das Bitten ist also ein Prozess, das eigene Begehren klarer zu machen, es in sich schwingen und pulsieren zu lassen und es dadurch stärker und fokussierter werden zu lassen, bis es seine eigene Erfüllung anzieht.

Die zwei wichtigsten Gebete innerhalb der Inayatiyya sind das Gebet Saum und das Gebet Salat. Saum richtet sich an den „Sonnenaspekt” des Göttlichen, an jene Macht, die im Grunde jenseits unserer Vorstellungskraft liegt und die wir nur durch ihr Wirken in der Schöpfung wahrnehmen können. Salat spricht den „Mondaspekt” an, den empfänglichen Teil. Es richtet sich an den Geist der Führung, der sich nicht nur in spirituellen Persönlichkeiten, Prophet:innen und Heiligen manifestiert, sondern auch in unseren Mitmenschen, in der Natur, in jeder und jedem einzelnen von uns.

Das Geheimnis von Gebet ist, dass wir das, was wir anrufen, gewissermaßen auch in uns selbst aktualisieren. Deshalb wird empfohlen, die beiden Gebete Saum und Salat immer gemeinsam zu beten, um den Sonnen- und den Mondaspekt in uns in Balance zu bringen.

Pir Zia verweist in seinem Beitrag zu den 5 Aspekten des Gebets auch auf Hazrat ‘Ali, der sagte: „Bete zu Gott, als ob du Gott sehen würdest.” Aber was bedeutet es, Gott zu „sehen”? Was bedeutet Gott für uns? Woran glauben wir? Letztlich hat jeder Mensch seine ureigenste Vorstellung von Gott, jeder geht seinen eigenen Pfad. Pir Zia Inayat Khan:

Die Sufis sagen, es gibt so viele Pfade zu Gott, wie es Atemzüge gibt. Jeder Pfad ist ein Ideal, und jeder hat ein Ideal. (…) Man könnte in dieser Welt nicht leben ohne Ideal – man würde gebrochen dadurch. Wenn Hazrat ‘Ali davon spricht, dass wir beten sollen, als ob wir Gott sehen würden, bedeutet das, dieses Ideal aus dem abstrakten Reich der Vermutung in die lebendige Realität zu bringen.

Und weiter:

Murshid sagt, „Gott ist das, was wir brauchen, um vollständig zu werden.” Und so ist jeder von uns ein voranschreitendes Projekt, und es gibt Qualitäten, die zu unserer Essenz gehören, die aber noch nicht adäquat Ausdruck gefunden haben in unserem Leben und darum ringen, geboren zu werden. Wir werden auf sie aufmerksam durch die Form unseres Ideals, und im Leben werden wir von Menschen angezogen, die dieses Ideal auf eine Weise manifestieren, wie wir das selbst noch nicht können. Diese Person wird dann zu einem Spiegel, in dem sich unser wahres Selbst erkennen kann. Denn all die Perfektion, die wir in der Welt beobachten, ist nur die Reflexion dessen, was in uns existiert. Du kannst es nicht erkennen, wenn es nicht bereits in dir vorhanden ist. Anrufung bedeutet, mit dieser Qualität des Seins zu leben, so wie du mit einer anderen Person leben würdest, und zu erleben, wie diese Qualität einen solchen Wert und eine Lebendigkeit in deinem Leben hat, dass sie zu einer Beziehung wird, die wichtiger ist als jede andere Beziehung.

Hier kannst du die wichtigsten Gebete der Inayatiyya herunterladen:
Gebete in traditioneller Form >
Gebete in geschlechtsinklusiver Form >

Kalligraphisches Album (‚muraqqa‘) von Ahmed Karahisari
Das obere ma’qili enthält alhamd lillah, das untere die Sure 112 (Sura al-Ikhlas, Die Reine). Dazwischen in schwarzer geketteter Schrift das basmala. Public Domain