Die 4 Murshidas

Gemäß den Einweihungsgraden der esoterischen Schule war die Position eines Murshid, einer Murshida der zweithöchste Rang hinter Pir-o-Murshid Inayat Khan selbst. Und alle vier dieser leitenden Positionen hatten im „Sufi Movement” (der Vorläuferorganisation der Inayatiyya) Frauen inne – nämlich Murshida Rabi’a Martin, Murshida Sophia Saintsbury-Green, Murshida Sharifa Goodenough und Murshida Fazal Mai Egeling.

 

Murshida Rabi’a Martin (1871–1947)


Ada Martin, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, war die allererste Schülerin Hazrat Inayat Khans, und zu ihr hatte er eine besonders enge Beziehung. Martin wurde als Kind jüdisch-russischer Eltern in Kalifornien geboren. Und sie schreibt selbst, dass sie bereits als Kind einen ausgeprägten eigenen Willen hatte: „… wenn ich mit Kindern spielte, wollte ich sie anführen, und sie hatten mir zu folgen, oder es gab kein Spiel für mich. Mein Sinn für Gerechtigkeit in meiner Spielwelt war so ausgeprägt … ich konnte nichts geringeres akzeptieren als die Ideale meines kindlichen Herzens.”¹

Mit 19 gebar sie eine Tochter, und sie erzählt, dass es ihr ein Vergnügen war, diese in den Prinzipien der Moral, Gerechtigkeit und Geduld sowie in Musik zu unterrichten. Doch dann, mit 28, überkam sie eine große Trauer, die vier lange Jahre nicht weichen wollte. Die Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation führte Martin zur Spiritualität. Doch mit westlichen Lehren konnte sie nicht allzu viel anfangen. „Ich betete zu Allah, dass er mich zur Quelle führen möge, denn bislang hatte ich nur von einem Bach getrunken, nicht vom Ozean der Realität.”¹

Sie erzählt, dass ihr Murshid bereits in Visionen begegnet war, bevor sie ihm im Frühjahr 1911 tatsächlich gegenüberstand. Inayat Khan sprach damals vor der Vedanta Society Hindu Temple in San Francisco. Und er nahm wahr, dass sein Vortrag auf eine Frau im Auditorium einen besonders tiefen Eindruck machte. Hazrat Inayat Khan: „In dieser Nacht hatte ich eine Vision, dass der ganze Raum von Licht erfüllt war, es gab keine Spuren von Dunkelheit. Ich dachte, dass am nächsten Tag etwas Wichtiges getan werden musste, und das war die Initiation von Frau Ada Martin, meiner ersten Schülerin nach meiner Ankunft im Westen. Und weil ich wusste, dass diese Seele Licht verbreiten und alle erleuchten wird, die mit ihr in Kontakt kommen, initiierte ich sie und nannte sie Rabi’a nach der großen Sufiheiligen von Basra.”²

Rabi’a Martin machte rasche Fortschritte in ihrem spirituellen Training. Und bald begann sie selbst zu lehren. 1918 eröffnete sie eine Schule der Philosophie und Mystik in San Francisco. Und ein zweites Zentrum, die Kaaba Allah, wurde im ländlichen Marin County etabliert. In den kommenden Jahren kamen weitere Zentren in den USA dazu. Und Murshid unterhielt einen regen Briefwechsel mir ihr, in dem er nicht nur als Lehrer auftrat, sondern zunehmend auch als Freund, der mit ihr den Austausch suchte.

Als Hazrat Inayat Khan 1927 überraschend starb, ohne die spirituelle Nachfolge geregelt zu haben, erhob Rabi’a Martin Anspruch auf diese Position. Talwar Dussaq, damals Generalsekretär der Sufibewegung, unterstützte diesen Anspruch zunächst, wie Zia Inayat Khan in seiner Dissertation über die Geschichte des Sufiordens ausführt³: „Dussaqs Überlegung war, wie er später erläuterte, dreifach: 1. Martin war die am längsten dienende Murshida, 2. Martin hatte administratives Geschick gezeigt, 3. Inayat Khan hatte Martins Hingabe an die (Sufi-)Botschaft gerühmt.” Martins Auftreten in Europa brachte ihn jedoch zum Umdenken. Denn Martin trat forsch auf, pries ihre eigenen Fähigkeiten an und adressierte die anwesenden Murid:as – darunter auch eine weitere Murshida sowie mehrere Scheichs – als „meine lieben Murids” (Murid:a bedeutet spirituelle Schüler:in, Anm.).

In der Folge entwickelte sich ein Tauziehen um die Macht im Sufi Movement, die auf allen Seiten Verletzungen hinterließ. Martin versuchte ihren Anspruch mit Aussagen Murshids in ihrer und der Gegenwart von Zeugen zu untermauern. Und sie versuchte zumindest die anderen US-Zentren auf ihre Seite zu ziehen. Doch vergeblich. Schließlich arbeitete sie auf regionaler Basis weiter, und 1942 schloss sie sich dem persischen Mystiker Meher Baba an. Aus dieser Verbindung entstand schließlich die Bewegung „Sufism Reoriented”.

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¹ Biographische Abrisse der führenden Mitarbeiter:innen, zur Verfügung gestellt durch die Nekbakht Foundation.

² Guillaume-Schamhart, Elise and Munira van Voorst van Beest ed. (1979). The Biography of Pir-o-Murshid Inayat Khan. London and The Hague: East-West-Publications, 1979.

³ Khan, Zia Inayat (2006). A Hybrid Sufi Order at the Crossroads of Modernity: The Sufi Order and Sufi Movement of Pir-o-Murshid Inayat Khan. UMI Dissertation Services, Duke University, S. 195.

Murshida Sophia Saintsbury-Green (gestorben 1939)


Auch Sophia Saintsbury-Green gehörte bereits in der Frühphase des Sufi Movements zum engeren Kreis um Hazrat Inayat Khan. Ihre Familie stammte aus der Gegend um Berkshire/UK, wo einer ihrer Großväter das Amt des High Sheriffs innehatte. Sophia selbst war außerordentlich gebildet und laut ihrer Sufigefährtin Angela Alt „eine geborene Poetin und Autorin exquisiter englischer Prosa”.¹

Eine besondere Rolle kam ihr bei der Entwicklung des Universellen Gottesdienstes zu, einer Art Messe, die in ihrem Ritual gewissermaßen alle Religionen mit einbezieht. Ganz neu war diese Idee damals nicht. Zia Inayat Khan beschreibt in seiner Dissertation über die Geschichte des Sufiordens, dass damals in der Theosophischen Gesellschaft und vor allem in der Order of the Star of the East eine liberale katholische Messe entwickelt worden war, bei der sechs Kerzen für die größeren Weltreligionen angezündet und auch Texte aus diesen Religionen vorgetragen wurden. Eine siebte Kerze blieb unangezündet, als Symbol für die noch nicht erfolgte Ankunft des Weltenlehrers.

Sophia hatte aufgrund ihres theosophischen Backgrounds diese Entwicklungen vermutlich gekannt, meint Zia Inayat Khan.² Er beschreibt, dass die Details des Universellen Gottesdienstes in einem intimen Gespräch zwischen Murshid und Sophia Saintsbury-Green in Miss Dowlands Wohnzimmer in Southampton im Mai 1921 entwickelt wurden. Und sie glichen verblüffend der oben erwähnten liberalen katholischen Messe, nur dass im Sufi Movement auch die siebte Kerze angezündet wurde, als Symbol für den Geist der Führung.

Saintsbury-Green war auch die erste, die als Cheraga (Priesterin) eingeweiht wurde und für 15 Monate diese Messen ganz allein hielt, bis dann andere Cherag:as dazustießen. 1923 wurde sie schließlich von Hazrat Inayat Khan als Murshida initiiert.

Angela Alt, die eine Art Kurzbiografie über sie verfasst hat, schreibt, dass Sophia sich vor allem zur tiefen, esoterischen Seite der Sufibotschaft hingezogen fühlte. Mit ihrer großen spirituellen Power konnte sie ihre Zuhörer:innen mitreißen und emporheben, sodass sie „etwas vom Himmel der Weisheit” sehen konnten. Alt: „Viele haben sie nicht verstanden. Aber einige, die sie näher kannten, erinnern sich lebhaft an gewisse Eigenschaften: eine exquisite Sensitivität und Kultiviertheit gepaart mit stoischer Courage; die Art, falsche Darstellungen und Verleumdungen still zu ertragen; blitzartige Schnelligkeit in der Auffassung und Einsicht in die menschliche Natur, und völliges Vergessen auf das Ego.”²

Murshida Saintsbury-Green schrieb auch zwei Bücher, die vom Sufi Movement veröffentlicht wurden: Memories of Hazrat Inayat Khan und Wings of the World.

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¹ Biographische Abrisse der führenden Mitarbeiter:innen, zur Verfügung gestellt durch die Nekbakht Foundation.

² Khan, Zia Inayat (2006). A Hybrid Sufi Order at the Crossroads of Modernity: The Sufi Order and Sufi Movement of Pir-o-Murshid Inayat Khan. UMI Dissertation Services, Duke University 2006, S. 195 und S. 125ff.

Murshida Sharifa Goodenough (1876–1937)

Lucy Marian Goodenough war die Tochter eines englischen Generals und einer österreichischen Gräfin Kinsky. Ähnlich wie Rabi’a Martin soll auch sie bereits als Kind dominant gegenüber ihren Geschwistern aufgetreten sein. Während ihrer Wiener Zeit engagierte sie sich in der Modebranche. Sie sprach mehrere Sprachen und kannte Dantes Göttliche Komödie auswendig.

Als sie 1915 oder 1916 während des Ersten Weltkriegs Pir-o-Murshid begegnete, änderte sich ihr Leben schlagartig. Sie diente der Sufibewegung mit großer Hingabe und spielte eine führende Rolle bei der Aufzeichnung und Überlieferung der Lehren von Hazrat Inayat Khan. Mit ihrem theosophischen Background trug sie auch dazu bei, im Sufi Movement das Interesse für die wissenschaftliche Beobachtung spiritueller Phänomene zu fördern. 1918 soll sie drei Geräte zur Messung der Lebenskraft  in der Khanqah (Sufizentrum) von Inayat Khan installiert haben – eines davon war ein Telergiskop zur Messung des Fortschritts der Studenten in der Konzentration und im Schweigen.¹

Goodenough war zunächst Generalsekretärin, ab Herbst 1922 Leiterin der esoterischen Schule. 1923 wurde sie als Murshida initiiert. Wenn Inayat Khan unterwegs war, vertraute er Goodenough die Lehrtätigkeit in Paris an. Sie „war ein Grundstein für den Aufbau des Ordens”, schreibt Hazrat Inayat Khan in seinen Memoiren. „In Miss Goodenough … habe ich den Geist der Schülerschaft gefunden, der so wenig bekannt ist in der Welt und selbst im Osten selten zu finden ist. Darüber hinaus entdeckte ich in ihr meine eigene Sicht der Dinge.” Obwohl sie aufgrund ihres Einzelgängertums manche vor den Kopf gestoßen habe, seien in ihr „perlengleiche Qualitäten” zu finden, „die unter einer harten Schale verborgen sind”.² 

Als Inayat Khan 1927 starb, wurde sie am härtesten von seinem unerwarteten Tod getroffen. Der tiefe Kummer führte zu einem psychischen Zusammenbruch, von dem sie sich nur langsam erholte. Ihr Schüler und enger Vertrauter Michel Guillaume berichtet: „Sie wurde ernsthaft krank und musste monatelang in Abgeschiedenheit leben. Sie ging aus dieser Periode als eine andere Person hervor. Zuvor war sie eher scheu; nun konnte man in ihrer schieren Präsenz eine Art von Meisterschaft über sich selbst und andere spüren. Vorher war sie eher eine Einzelgängerin; nun war sie bereit, alle und jeden mit einer Geduld, Sanftmut und Freundlichkeit zu empfangen, die zeitweise geradezu übermenschlich war. In ihrer Gegenwart konnte man den Frieden, die Stille des Geistes atmen, die einen das eigene wahre Selbst spüren lässt.”³

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¹ Khan, Zia Inayat (2006). A Hybrid Sufi Order at the Crossroads of Modernity: The Sufi Order and Sufi Movement of Pir-o-Murshid Inayat Khan. UMI Dissertation Services, Duke University, Seite 195, S. 98 f.

² Guillaume-Schamhart, Elise and Munira van Voorst van Beest ed. (1979). The Biography of Pir-o-Murshid Inayat Khan. London and The Hague: East-West-Publications.

³ Biographische Abrisse der führenden Mitarbeiter:innen, zur Verfügung gestellt durch die Nekbakht Foundation.

Murshida Fazal Mai Egeling (1861–1939)

Fazal Mai Egeling war Holländerin. Als sie Hazrat Inayat Khan das erstemal begegnete, hatte sie bereits die Lebensmitte überschritten. Ihr Mann war gerade gestorben, und sie erzählt, dass sie sich damals in der Schweiz nahe Lausanne bei Freunden aufhielt. Über einen Freund, der als Sekretär von Hazrat Inayat Khan arbeitete, erhielt sie eine Einladung zu einem Vortrag des Sufilehrers in Lausanne: „Mein Freund bat mich mitzuhelfen, und so ergab es sich, dass ich mitten im Publikum war, als Murshid die Bühne betrat. Augenblicklich kam mir die Eingebung: ‚Das ist der Meister, auf den ich gewartet habe, und von dem ich inständig gehofft habe, dass ich eines Tages das Privileg haben werde, ihm zu begegnen.‘ Diese Offenbarung bestimmte mein weiteres Leben, denn es war nur ein Schritt für mich, eine Murida (spirituelle Schülerin) zu werden und mein Leben diesem Meister und seinem Werk zu widmen.”¹

Egeling, die eine christlich orthodoxe Erziehung genossen und sich später der theosophischen Bewegung angeschlossen hatte, war bereit, ihr früheres Leben von einem Tag zum anderen aufzugeben. „Als Murshid bei seinem nächsten Schweiz-Aufenthalt vorschlug, dass ich ihn begleiten und mit ihm und seiner Familie leben sollte, zögerte ich nicht einen Augenblick und antwortete: ‚Ja, Murshid, ich werde kommen und mit dir leben.”¹

Da sie einigermaßen wohlhabend war, finanzierte sie 1922 sogar das Haus in Suresnes bei Paris, in dem sie mit der Familie ihres Lehrers leben sollte. Hazrat Inayat Khan gab daraufhin seiner Schülerin den Namen „Fazal Mai”, was soviel wie „Gesegnete Mutter” bedeutet. Und das Haus, das bald zum spirituellen Zentrum der Sufibewegung werden sollte, nannte er „Fazal Manzil”, „Gesegnetes Haus”. In seinen Memoiren schrieb Inayat Khan über sie: „Ihre Hand, als eine Hand der Vorsehung, wurde zu meinem Rückgrat. Sie ließ mich Mut fassen und richtete meinen Kopf voller Dank nach oben, einen Kopf, der so lange gedemütigt und geplagt von Mittellosigkeit nach unten hing.”²

Dank dieser großzügigen Spende errichtete Murshid seine Sommerschule in Suresnes, die bald von Murids aus Holland, der Schweiz, Polen, Russland, Frankreich, Amerika und England besucht wurde. Fazal Mai veranstaltete in dieser Zeit als Cheraga (Priesterin) jeden Sonntag in Suresnes einen Universellen Gottesdienst und rief auch einen wöchentlichen Heildienst ins Leben. Am Morgen des Christtags 1923 wurde sie schließlich als Murshida initiiert. Und von diesem Zeitpunkt an machte sie es zu ihrer täglichen Praxis, Segenswünsche von Fazal Manzil zu den Murids aller Nationen auszusenden.

Ihre Lebenshaltung beschreibt sie folgendermaßen:

Es gibt nicht viel zu sagen über die vielen Schwierigkeiten, die ich in meinem Leben hatte. Denn wenn die Sorgen vorbei sind, sehen wir sie in einem anderen Licht. Dann sind sie nur insofern wichtig, als wir wissen, dass wir durch eben diese Sorgen Weisheit erlangt haben. Jede Sorge, genauso wie jedes Vergnügen, hat ihren Wert als Lehrerin. Es ist allen gegeben, am Ende unser eigenes Selbst zu finden, den Christus in unserem eigenen Herzen.¹

Vor ihrem Tod 1939 deponierte sie ihr Vermögen in einer niederländischen Stiftung und bestimmte Pir Vilayat, den älteren Sohn von Hazrat Inayat Khan, als „Oberhaupt der Sufibewegung” zum Begünstigten.

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¹ Biographische Abrisse der führenden Mitarbeiter:innen, zur Verfügung gestellt durch die Nekbakht Foundation.

² Guillaume-Schamhart, Elise and Munira van Voorst van Beest ed. (1979). The Biography of Pir-o-Murshid Inayat Khan. London and The Hague: East-West-Publications.