Retreat

Konflikt zwischen Sonnen- und Mondkräften. Aurora Consurgens manuscript, Zurich exemplar. Zürich Zentralbibliothek, Public Domain

DER WEG NACH INNEN

So gut wie alle mystischen Traditionen kennen die Praxis des Retreats, des Rückzugs in die Stille. Doch Retreat ist mehr als nur ein Rückzug aus dem Alltag. Wer sich darauf einlässt, begibt sich in einen tiefen inneren Prozess. Mit Hilfe des Retreats können wir zu unserem eigentlichen Wesen vordringen und daraus neue Kraft schöpfen. Bewusstseinserweiterung bedeutet jedoch auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten. Das, was im Alltag verdrängt wurde, dringt nun in der Stille an die Oberfläche, will gesehen und erlöst werden. Aber gerade deshalb sind Retreats zutiefst heilsam und helfen uns, unsere inneren Ressourcen zu entdecken. Im Retreat gewinnen wir eine neue Sicht auf uns selbst, auf das Leben und auf die Welt.

Es gibt Gruppenretreats, in denen man unter Anleitung eines Retreatguides in der Gruppe meditiert. Beim Einzelretreat zieht man sich an einen stillen Ort zurück und erhält in der Regel einmal pro Tag individuelle Übungen. Der Retreatguide stimmt dabei die einzelnen Praktiken genau auf den Zustand und die Bedürfnisse des Retreatants ab. Er oder sie knüpft auch ein inneres Band mit dem Retreatant, hilft ihm oder ihr, den inneren Retreatraum zu halten. Der Guide verbindet sich gewissermaßen mit der inneren Führung der jeweiligen Person und spiegelt ihr diese zurück.

Retreats können einen Tag dauern oder länger, bis zu 40 Tagen. Empfohlen wird dabei eine leichte Diät, Gemüse, Reis, Müsli und andere leichtverdauliche Speisen. Nicht empfohlen werden Kaffee (im Retreat reagiert unser Organismus viel empfindlicher auf Aufputschmittel), Fleisch (verstopft angeblich die feinstofflichen Kanäle) und Milchprodukte (Tendenz zur Verschleimung der feinstofflichen Kanäle).

Es gibt eine Vielzahl von Retreatübungen wie zum Beispiel Atem- und Lichtübungen, Konzentration, Kontemplation und Meditation, die Anrufung der göttlichen Namen und verschiedene Formen von Zikr.

Gruppenretreats werden im > Programm der Inayatiyya Österreich angekündigt. Eine schöne Möglichkeit für Einzelretreats bietet sich z.B. im Sufi-Camp im Schweizer Tessin  an. Auch innerhalb Österreichs sind Einzelretreats möglich. Nähere Infos zu Guides für Einzelretreats erhältst du hier >.

Sufi-Camp im Schweizer Tessin, Foto © Ingrid Dengg

 

Die Bedeutung der Alchemie im Sufiretreat

Ziel des Sufiwegs und damit auch des Retreats ist es, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Dabei geht es um Transformation, um Wandlung. Das, was sich dabei wandelt, ist die Wahrnehmung des Selbst. Im Grunde geht jede:r von uns diesen Weg. Das Leben selbst ist der größte Lehrmeister. Dabei durchlaufen wir verschiedene Prozesse, bewusst oder unbewusst, bis wir schließlich eines Tages feststellen, dass wir uns verändert haben.

Im Retreat laufen diese Prozesse jedoch intensiver und bewusster ab. Die Sufis haben diese inneren Prozesse genau erforscht und unterstützen sie gezielt. Dabei kommt ihnen das jahrtausendealte transformative Wissen der  Alchemie¹ zugute. Wobei wir hier nicht vom profanen Aspekt der Alchemie als einer Art Protowissenschaft sprechen, sondern vielmehr von dem tiefen spirituellen Wissen, das die alten Meister:innen wie Maria Prophetissa, Jabir ibn Hayyan („Geber”) oder Theophrastus Paracelsus in der Auseinandersetzung mit der Materie und den psychischen Prozessen, die dabei abliefen, gewonnen hatten.

Der Psychoanalytiker C.G. Jung war einer der ersten modernen Wissenschafter, der aufzeigte, dass das alchemistische Modell der Selbsttransformation eine Methode ist, die auf alle Transformationsprozesse anwendbar ist, vom Wachstum der Pflanzen bis zur Entfaltung der menschlichen Psyche.

Die Stufen der Transformation werden in der Alchemie, und im Sufi-Retreat, im Wesentlichen in vier grundlegende Phasen eingeteilt, die im Folgenden beschrieben werden.

Nigredo, die Schwärzung

Wenn wir uns von der Welt zurückziehen, sehnen wir uns gewöhnlich nach Ruhe, Stille, nach einem Loslassen der äußeren Welt. Umso überraschter sind wir dann, wenn genau das Gegenteil passiert. Unser Körper beginnt zu zwicken, unsere Gedanken, die wir im Alltag oft verdrängen, überfallen uns wie Heuschrecken. Die Probleme, die wir beiseite geschoben haben, melden sich mit Vehemenz zurück. Und manchmal würden wir am liebsten auf der Stelle davonrennen.

In der Alchemie wird diese erste Phase des Transformationsprozesses Nigredo, die Schwärzung, genannt. Natürlich kennen wir diesen Zustand auch aus dem Alltag, wenn alles um uns zusammenzubrechen scheint. Wir sind verwirrt und mit heftigen Gefühlen wie Ärger oder Verzweiflung konfrontiert. Doch während wir uns im Alltag in solchen Situationen oft abzulenken versuchen, befinden wir uns hier im Retreat gewissermaßen in einem hermetisch verschlossenen Gefäß. Der Begriff „hermetisch” geht auf Hermes Trismegistos zurück, der als (einer der) Begründer der Alchemie gilt. Wir kochen gewissermaßen in unserem eigenen Saft, gehen durch einen intensiven Reinigungsprozess, der auf dieser ersten Stufe der Reinigungsprozess durch das Erdelement ist. Die Erde ist dasjenige Element, das die Dinge durch Verrotten oder Verfaulen recycelt.

In diesem Stadium wird Geduld, Demut und Akzeptanz von uns verlangt. Und es ist wichtig, einen Guide zur Seite zu haben, der oder die uns behutsam anleitet und unser Vertrauen in die innere Weisheit des Prozesses stärkt. Inneres Gewahrsein, das Halten widersprüchlicher Gefühle im Herzen helfen uns, diese Konflikte nach und nach aufzulösen, bis wir einen neuen Zustand innerer Klarheit und Freiheit erreicht haben.

Albedo, die Weißung

So wie Nigredo mit dem Erdelement verbunden ist, steht Albedo unter dem Zeichen des Wasserelements. Hier kommt ein wichtiger Grundsatz der Alchemie zum Tragen, „solve et coagula”, Auflösung und Verfestigung. Bei jedem inneren Prozess geht es zuerst darum, die alten Strukturen aufzulösen, um Platz für Neues zu machen, das im Anschluss dann verfestigt werden muss, um im Leben Bestand zu haben. In Albedo wenden wir uns nach innen, wir werden uns unserer Seelennatur bewusst. Und wir beginnen den Spirit in uns zu entdecken, das „Wasser des Lebens”. Wir entdecken unsere Lichtnatur, das reflektierte Licht des Mondes. Diese Stufe verlangt große Integrität, Kraft und Ausdauer von uns.

Citrinitas, die Gelbung

Unser Bewusstsein ist nun ganz fein und sehr rein. Doch bevor wir weitergehen können, sterben wir einen inneren Tod. Genaugenommen sterben wir beim Fortschreiten von einer Entwicklungsstufe zur nächsten jedesmal einen spirituellen Tod. Wir gehen durch eine Art Zwischenraum, den die Sufis barzakh und die Buddhisten bardo nennen. Hier, auf dieser Stufe, wandelt sich das Licht in uns vom reflektierten Licht, vom Mondlicht, in Sonnenlicht. Dieses Licht ist stark und verzehrend, es ist das Licht der schöpferischen Intelligenz, des göttlichen Intellekts. Wir erhalten Zugang zu unserer inneren Intuition und zu offenbartem Wissen.

Rubedo, die Rötung

Am Ende der dritten Stufe ist unser Bewusstsein sehr frei, es befindet sich jenseits von Zeit und Raum. Doch unser Zustand ist immer noch unvollkommen, instabil, da kein Körper, keine Psyche vorhanden ist, um als sicheres Gefäß der Inkarnation zu dienen. Die Seele, die sich in diesem Prozess zunächst vom Körper und dann vom konzeptiven Verstand befreit hat, muss sich nun mit beiden wieder vereinen. Wir sprechen hier von der „großen alchemistischen Hochzeit”². Aber es ist nicht der alte Verstand und der alte Körper, mit dem sich die Seele nun verbindet. Es ist ein neuer, gereinigter Körper, ein neuer, gereinigter Verstand. Die Alchemisten sprechen hier von einer Vergeistigung des Körpers und einer Verkörperung des Geistes. Beide durchdringen und unterstützen einander gegenseitig. Genau das ist es auch, was der vielzitierte „Stein der Weisen” genannt wird.

Dies sind die traditionellen Stufen. Doch nicht immer endet der innere Prozess im Retreat mit Rubedo. Es heißt, dass die großen Sufimeister:innen ihre Retreats erst beendeten, wenn sich in ihren Herzen ein smaragdgrünes Licht zeigte. Das bedeutet, dass die Retreatants in solchen Fällen nach Rubedo durch einen neuerlichen und diesmal feineren Auflösungszustand gehen, durch das blaue Licht, das sich schließlich nach einem weiteren Zustand der Verfestigung als grünes Licht im Herzen manifestiert. Hildegard von Bingen nennt diesen Zustand der Grünung „Viriditas”.

Im Idealfall sind nun Körper, Geist und Seele sowie die inneren Elemente in vollkommener Balance. Doch die Sufis wissen auch, dass ein solch perfekter Zustand, wenn überhaupt, nur punktuell erreicht werden kann. De facto müssen wir all diese Phasen viele viele Male durchlaufen. Es ist wie bei einer Spirale. Jedes Mal werden wir die einzelnen Retreatphasen neu und mit einem anderen Bewusstsein erleben.

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¹ Alchemistische Traditionen gibt es sowohl in China als auch in Indien sowie im alten Ägypten, von wo aus diese Kunst im 4. Jh. v. Chr. zu den Griechen und später über den Umweg arabischer Übersetzungen der griechischen Schriften im 12. und 13. Jh. n. Chr. auch nach Europa gelangte.

² Hochzeit bedeutet in der Alchemie die Vereinigung von Gegensätzen.

Maria Prophetissa gilt als die erste historisch überlieferte Alchemistin. Sie lebte im hellenistischen Ägypten, vermutlich im 1. bis 3. Jh. Das meiste, was wir über sie wissen, erfahren wir durch die Schriften des Zosimos von Panopolis, der Maria ebenso wie viele andere Alchemisten hoch verehrte. Maria ist nicht nur wegen ihrer Lehren bekannt, sondern auch wegen ihrer Erfindungen von alchemistischen Geräten. Bis heute ist die Erwärmung im Wasserbad im Deutschen als „Marienbad” und im Französischen als „bain Marie” bekannt. Im Bild zeigt sie auf das weiße Kraut auf dem Berg, das aus der Vereinigung zwischen oben und unten, zwischen Sonnen- und Mondanteilen im alchemistischen Entwicklungsprozess entstanden ist.

Maria Prophetissa, Illustration aus dem Werk Symbola aurea mensae des Alchemisten Michael Maier. Koloriert von Adam MacLean. Public Domain