Tasawwur-i Murshid

Bei dieser Übung stellen wir uns vor, dass wir einer spirituellen Lehrerin/einem Lehrer (Murshid:a bedeutet Lehrer:in) gegenübersitzen. Indem wir uns intensiv auf das Bild dieser heiligen Person konzentrieren, können wir ihre Präsenz spüren und eine innere Verbindung mit ihr aufnehmen.

Tasawwur (arabisch, urdu) bedeutet so viel wie Imagination. Denn es ist die Kraft der Imagination, mit der wir hier die Präsenz dieser Meisterin/dieses Meisters hervorrufen.

Der Sinn dahinter ist der, dass diese Person jene Eigenschaften, die wir gerne entwickeln würden, auf eine viel bessere Weise verkörpert, als wir dazu im Moment in der Lage sind. Die imaginierte Person dient uns gewissermaßen als Modell, als Vorbild. Pir Zia: „Diese Person wird dann zu einem Spiegel, in dem sich unser wahres Selbst erkennen kann. Denn all die Perfektion, die wir in der Welt beobachten, ist nur die Reflexion dessen, was in uns existiert. Du kannst es nicht erkennen, wenn es nicht bereits in dir vorhanden ist.” Gleichzeitig ist diese spirituelle Lehrerin, dieser Lehrer jedoch ein reales Wesen, das uns mit „allen erleuchteten Seelen” verbindet, wie es in der Sufi-Invokation heißt, und damit letztlich mit dem Geist der Führung, mit der Kraft unserer spirituellen Tradition.

Tasawwur-i Murshid ist dem Guruyoga der hinduistischen und buddhistischen Traditionen sehr ähnlich.

Hazrad Inayat Khan im Garten von Fazal Manzil in Suresnes bei Paris. Foto: Nekbakht Foundation

Hier ist eine Anleitung zu Tasawwur-i Murshid bzw. Tasawwur-i Scheich, die Pir Zia Inayat Khan im Rahmen eines Seminars im Schweizer Sufi-Camp gegeben hat:

  • Es gibt drei Stufen der Praxis von Tasawwur. Wir beginnen mit der ersten, Tasawwur-i Scheich.
  • Stell dir bildhaft vor, an einer Versammlung mit Murshid teilzunehmen. Du kannst etwa die heilige Atmosphäre der Sommerschule in Suresnes visualisieren, wo sich alle im Obstgarten versammelt haben, und du gehst auf dem Pfad zu dem Baum, unter dem Murshid in Meditation sitzt.
  • Er sitzt da, vollständig absorbiert in göttlichem Bewusstsein. Du gehst zu ihm hin, kniest auf die Erde und begegnest seinem Blick. Der Anblick seiner lächelnden Stirn, seines weißen Bartes und seiner gelben Robe verwandelt sich – während deine Augen geschlossen sind – in eine Atmosphäre, die dein ganzes Wesen durchdringt und erfüllt.
  • Während du Murshid gegenübersitzst, sendest du aus deinem physischen Herzen in der linken Brust deine ganze Hingabe, Liebe und Sehnsucht nach Intimität mit dem Göttlichen aus. Du sendest sie entlang der rabita, der Schnur, dem initiatischen Band, das dein Herz mit dem Herzen Murshids verbindet.
  • Beim Einatmen empfängst du von Murshid einen Strom von freundlichem Wohlwollen, von Angenommensein, von Liebe; und ein wahres Bezeugen deines innersten Wesens. All das dringt in dein Herz durch diese innere initiatische Verbindung, die dein Herz wie eine Nabelschnur ernährt.
  • Beim Ausatmen hältst du nichts zurück. Du lässt das tiefe, geheime innere Sehnen deines Herzens frei fließen, fühlst dich in der Tiefe deines Wesens von Murshid erkannt und gesehen und öffnest ihm, der all das verkörpert, dem du zutiefst vertraust, dein ganzes Wesen.
  • Wir sprechen zusammen: ya Murshid – ya Murshid – ya Murshid …
  • Wenn ihr so weit seid, öffnet die Augen. Wir machen jetzt 20 Minuten Pause. Während dieser Zeit seid ihr eingeladen, entweder zu schweigen oder so zu sprechen, dass es die heilige Atmosphäre, die wir hier aufbauen, unterstützt. Und nehmt dabei Rücksicht auf jene, die im Schweigen sind.