Zira’at

“Säe dein Gold in die weißgeblätterte Erde.” Emblem VI aus dem Werk “Atalanta Fugiens” des Alchemisten Michael Maier (17. Jh.). Public Domain

Die Kultivierung des Herzens

Fruchtbarkeit hat drei Aspekte. Der erste Aspekt ist, wenn sich das eigene Leben positiv auf uns auswirkt; der nächste Aspekt ist, wenn sich das Leben außerhalb von uns positiv auf uns auswirkt; und der dritte Aspekt ist, wenn wir ein Segen für unser eigenes Leben und für das Leben außerhalb von uns sind, und sich das äußere Leben segensreich für uns selbst auswirkt. Das ist der Augenblick, wo unser Leben fruchtbar wird. 

Hazrat Inayat Khan

Zira’at ist ein Weg des Tuns, der Verwirklichung unserer Ideale im Hier und Jetzt, ein Leben im Einklang mit der Natur und den Elementen. Doch Verantwortung im Außen übernehmen kann nur jemand, der zuerst den inneren Garten des Herzens bestellt hat.

Der Begriff Zira’at leitet sich vom persischen Wort ‚zeraát’, Landwirtschaft, ab. Die innere Arbeit an sich selbst und die Entwicklung der Persönlichkeit wird hier in Begriffen der Landwirtschaft symbolisiert. Diese Begriffe stehen für innere Transformationsstufen und -phasen. Gleichzeitig finden sie aber auch eine sehr reale Verwirklichung im Alltag. Der „Hof”, wie das Wirkungsfeld im Zira’at genannt wird, verbindet innere und äußere Welten, oben und unten. Letztlich hängt alles zusammen. Das eine wird durch das andere bestimmt. In der Tabula Smaragdina, einem berühmten alchemistischen Text, heißt es: „Das, was oben ist, kommt von dem, was unten ist, und das was unten ist, kommt von dem, was oben ist, und so bewirken sie die Wunder des Einen.”

Ganz wesentlich im Zira’at ist zunächst einmal die Kultivierung des Herzens. „Jede Seele erschafft eine Welt”,² sagt Hazrat Inayat Khan. Wir selbst kreieren unsere eigene innere Welt, die von Neigungen und Konditionierungen geprägt ist, die wir im Lauf unseres Lebens angesammelt haben. In der ersten Zira’at-Stufe, dem „Pflügen”, geht es deshalb um Entlernen, um die Befreiung von unerwünschten und teils unbewussten Impulsen, um das Ausrotten von überkommenen Glaubenssätzen und Werten. Wie der Pflüger jedes einzelne Unkraut sorgfältig mit der Wurzel ausreißt und jeden Stein aus dem Acker entfernt, bevor er mit dem Säen beginnen kann, geht es auch hier um ein Leermachen des Geistes, eine tiefe innere Reinigung.

Eine zentrale spirituelle Übung auf dieser Stufe ist der Reinigungsatem der Elemente. Denn jedes Element hat eine ganz spezifische Rolle in diesem inneren Reinigungsprozess. Beim Erdatem nehmen wir die Energie des Planeten in uns auf und geben alles Schwere ab. Erde bedeutet Recycling, Assimilation durch Zerfallsprozesse. Mit dem Wasseratem lösen wir verfestigte Meinungen und Konditionierungen auf und begeben uns in einen inneren Zustand des Fließens. Wir werden weich und anpassungsfähig. Gleichzeitig ist nichts stärker als Wasser, das sich seinen Weg zum Ziel gräbt. Mit dem Feueratem läutern wir heftige Obsessionen und Leidenschaften und verwandeln sie in lichtvolle Qualitäten. Und das Luftelement hilft uns, uns von unerwünschten Anhaftungen und überkommenen Idealen und Glaubenssätzen zu befreien, sodass wir uns auf das konzentrieren können, was uns wirklich wichtig ist. Diese Reinigungsprozesse führen schließlich zu einem Zustand der inneren Balance und Harmonie mit den Elementen, der im Ätheratem seine Vollendung findet.

Zira’at bedeutet aber auch, dass wir uns nicht nur auf uns selbst konzentrieren, sondern unsere Vernetztheit mit dem Leben um uns entdecken und bejahen. In den Augen der Sufis ist die Erde nicht nur ein Planet, sondern ein intelligenter, lebendiger Organismus, dem wir angehören, mit dem wir zutiefst und unauflöslich verbunden sind. Pir Zia Inayat Khan:

Wir sind nur ein Selbst, weil wir Teil eines größeren Selbst sind; wir können unser kleines Selbst nicht aus diesem größeren Selbst herauslösen. Wir sind Geschwister für jedes Wesen auf diesem Planeten.³

Pir Zia verweist in diesem Zusammenhang auch auf den großen Sufimeister Scheich Shibli, der sagte:

Ein Sufi ist erst dann ein Sufi, wenn er/sie die gesamte Schöpfung als familiäre Verantwortung auf sich nimmt.

Innerhalb der Inayatiyya wurde deshalb jetzt auch der Erde symbolisch ein Sitz im internationalen Vorstand eingeräumt, was bedeutet, dass alle Entscheidungen auch im Bewusstsein und im Sinn der Verantwortung für die Erde getroffen werden. Und jede der sieben Inayatiyya-Aktivitäten, nicht nur Zira’at, ist dazu aufgerufen, auf ihre spezifische Art und Weise auf den Ruf der Erde zu hören und zu reagieren. Letztlich beginnt diese Verantwortung fürs Ganze aber bei jeder und jedem Einzelnen von uns … 

von Ingrid Dengg

Nähere Informationen:
Irmgard Salima Pasterk

 

Zur internationalen Zira’at-Website >

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¹ HIK, Mess. Vol. XIII, The Gathas, Part III, Gatha II.

² HIK, Mess. Vol. VII, In An Eastern Rose Garden, Mental Creation.

³ Rede zur Neujahrseinstimmung am 1. Jänner 2022.